Wie geht es eigentlich den ländlichen Räumen? Oder: Ein aktueller Blick in die Patientenakte

Die Städte boomen, sind gerade für junge Menschen attraktiv, bieten Arbeitsplätze, Kultur und vieles mehr. So der schnelle Blick aus der urban-schwärmerischen Perspektive. Gleichzeitig werden den ländlichen Räumen Leerstand, Überalterung und wirtschaftliche wie soziale Strukturschwächen diagnostiziert. An beiden Sichtweisen ist etwas dran, aber wie bei vielem im Leben gibt es nicht nur schwarz und weiß, sondern auch ein sowohl als auch. Die Konturen werden zunehmend unscharf.
Symbolbild Dorf
Symbolbild Dorf (Photo by Julian Hochgesang on Unsplash)

Abgehängt ist nicht gleich abgehängt

Nicht nur die regelmäßig geführte Diskussion um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse spricht vom „Abgehängt sein“. Ein Handeln tut Not. ABER: Abgehängt ist nicht gleich abgehängt. Formen des Abgehängt seins können sich auf die Infrastruktur, auf die wirtschaftliche Situation, oder auch auf den gesellschaftlichen Aspekt beziehen. Trennen lassen sich die Formen sicherlich nicht voneinander. Mehr noch: Sie bedingen sich in den meisten Fällen. Aber ein Gefühlskonglomerat aus Ängsten, Unzufriedenheit, Ohnmacht oder auch Politikverdrossenheit sind starke Ausdrücke und Beschleuniger gleichermaßen. (Thünen-Institut für Ländliche Räume, 2019).

Ein weiteres ABER: Wir müssen endlich damit aufräumen, die schwarze Wolke „Abgehängt“ nur und vor allem flächendeckend für die ländlichen Räume zu diagnostizieren. Schwache Strukturen existieren in Ost wie West, in urbanen wie ländlichen Räumen. Bei einem Blick auf die alten Montan- und Braunkohleregionen leuchtet dies ein. Ebenso findet Prosperität in allen Raumkategorien statt, bei einem Blick in das Emsland, oder nach Frankfurt am Main wird dies sehr deutlich. Die logische Frage also lautet: Wie bewältigen wir eine Umkehr von infrastrukturellen und wirtschaftlichen Schwächen? Wie schaffen wir eine Reduktion von gesellschaftlichem Abgehängt sein? Geeignete Förderprogramme und Investitionshilfen sind das Mittel der Wahl. Und: Wenn eine Teilhabe an lokalen Entscheidungen, wenn die Nahbarkeit der politischen und administrativen Verantwortlichen sowie eine Gestaltungsohnmacht einer sozialen Verantwortung weicht, dann haben wir schon sehr viel gewonnen. Keine einfache Aufgabe.

Dritte Orte als soziale Orte der Teilhabe und Verantwortung

Wirtschaftliche und infrastrukturelle Schwäche sind schnell messbar und auch – so der politische Wille groß ist – zu verbessern. Sozial-gesellschaftliche Schwäche dagegen erfordert etwas, was in Zahlen kaum auszudrücken ist. Es braucht Wertschätzung für die ländlichen Räume (Stichwort Motivation), Vertrauen in und Handlungsspielraum für die Kommunalpolitik (Stichwort kommunale Selbstverwaltung), flexible finanzielle Unterstützung (Stichwort Regionalbudgets) und mehr Prozess- statt Projektförderung (Stichwort Förderkultur), so der Tenor des Forschungsprojektes „Das soziale Orte Konzept“ der Uni Göttingen. „Nicht mehr der Ort bestimmt den sozialen Zusammenhalt, sondern der soziale Zusammenhalt macht den Ort aus“, so bringt Prof. Dr. Jens Kersten, Uni München, es auf den Punkt.

Wie und wo wollen wir leben?

Eine 2020 vom Institut Kantar durchgeführte Studie liefert Fakten: Die Stadt zu verlassen, nimmt zu. Nur 13% der Befragten gaben in der Umfrage an, in Zukunft in der Stadt leben zu wollen. 51% sagten, dass sie auf dem Land in Kleinstädten und Dörfern leben wollen.

Interessant sind vor allem Veränderungen im Umzugsverhalten von Familien. Nahezu flächendeckend erzielen ländliche Gebiete auch fern der Metropolen Wanderungsgewinne von 30- bis 49-Jährigen und ihren Kindern. („Digital aufs Land“: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, Wüstenrot Stiftung, April 2021).

Fakt also: Ob aufgrund explodierender Wohnungspreise in den Städten, oder aufgrund sich verändernder Bedürfnisse und Möglichkeiten der Menschen: Das Landleben wird attraktiver. Mindestens ein Grund mehr in jegliche Form von Infrastruktur zu investieren.

Wo würden Sie am liebsten wohnen? (Quelle: Kantar/Emnid)
Wo würden Sie am liebsten wohnen? (Quelle: Kantar/Emnid)

Diversifizierung als Impulsgeber

Immer mehr Menschen verabschieden sich vom vielzitierten Gegensatz Stadt-Land. Sie wählen ihren Lebensmittelpunkt flexibel. Eine Vielzahl neuer Wohn-, Lebens- und Arbeitsformate und Initiativen wie „Kreativorte“, „Coworking“, „Landerneuerer“, „Stadtflüchtige“, oder „Startups“ entstehen. Sie denken ganzheitlich, integrativ und auf die Gesamtregion bezogen. Das Thema ländliche Entwicklung erhält eine ergänzende Dimension der Möglichkeiten. Urbane und ländliche Elemente verschmelzen miteinander – und das ist ihre größte Stärke. Dörfer sind keine Städte und wollen es auch nicht sein. Eine Kopie einer Kopie hat noch niemanden glücklich gemacht. Eigene Profile – von den Bewohnerinnen und Bewohnern aus gedacht und umgesetzt sind der beste Garant dafür, dass es auch passt.

Dezentral sticht zentral

Räumliche Distanz bestimmter ländlicher Orte zu staatlichen Institutionen schüren die Wahrnehmung „nicht gehört und gesehen“ zu werden, Zentralisierungsreformen stoßen an politische Grenzen und lösen Akzeptanzprobleme aus. Dezentrale Wissens- und Innovationszentren bis hin zu Mikroeinheiten wie die „Präsenzstellen“ der Hochschulen in Brandenburg, oder Gründerzentren können einen positiven Beitrag liefern. Zuzüge ermöglichen eine Stabilisierung der Infrastruktur, führen zu einem breiteren Angebot in der Daseinsvorsorge und kurbeln die Nahversorgung an.

Kein Anschluss unter dieser Nummer

Ohne eine schnelle Internetverbindung geht es nicht! Digitale Lösungen haben nicht nur das Potenzial, Strukturen zu erhalten, sondern sie zudem zu verbessern. Aber in der Realität sieht es oft anders aus. Nicht selten nehmen Unternehmer:innen aus Industrie, Handwerk und Landwirtschaft den Anschluss selbst in die Hand. Ein Blick in den aktuellen Breitbandatlas bestätigt: Je ländlicher die Region, umso schlechter der Anschluss.

Aktuelle Breitbandverfügbarkeit in Deutschland (Quelle: Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, 2020)
Aktuelle Breitbandverfügbarkeit in Deutschland (Quelle: Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, 2020)

Ohne politische Aufmerksamkeit geht es nicht

Es geht nicht um Almosen, sondern um Wertschätzung. Auch geht es nicht nur um eine Mängelbewirtschaftung, sondern um potenzialorientierte Ansätze. Und: Die Politik muss sich entscheiden. Wo bringen wir die ländlichen Räume unter, ohne dass diese in der politischen Aufmerksamkeit verschwinden?

Der aktuelle Befund hierzu fällt (noch) recht ernüchternd aus. Kein Ministerium hat sich bislang prominent und klar zu den ländlichen Räumen geäußert. Ja, die ländlichen Räume sind keine einzugrenzenden Inhalte, sondern eine geografische Einheit. Das macht es herausfordernder aber auch chancenreicher. Ressortübergreifendes Handeln wäre das Mittel der Wahl. Synergien schaffen und gemeinsam nach Strategien und Handlungsansätzen suchen. Die Gunst der Stunde in der noch jungen Koalition nutzbar machen. Aber Fördermittel sind nicht alles. Auf den Punkt gebracht geht es im Wesentlichen um Wertschätzung und Engagement, um neue Rollendefinitionen und um neue Narrative. Ein Wandel beginnt wie immer im Kopf.

Dieser Artikel ist erschienen in Deutsche Bauern Korrespondenz dbk. Ausgabe 7/2021.

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